Vol. 16 No. 64 (1986): Gewerkschaften: Wie beweglich ist ein Tanker?

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Die Warnungen kommen von allen Seiten, insbesondere aber von außen: »Haben sich die Gewerkschaften überlebt?« fragt die Tugendwächterin der Liberalität (Die Zeit) jüngst in einer ausführlichen Serie über die Gewerkschaften in der westlichen Welt, und sie konstatiert eine »tiefe Krise«, denn »die dritte industrielle Revolution, der Wandel der Wirtschaft und der Arbeitsplätze - das alles läuft an den Arbeitnehmerorganisationen vorbei.« Die Gewerkschaften sind zu Verteidigungsorganisationen absteigender sozialer Gruppen geworden, die Zukunft ereignet sich an ihnen vorbei, so lautet die These von Dahrendorf - und nicht nur selbsternannte Tugendwächter stimmen dem zu. Wenn liberale Propheten sich um die Gewerkschaften sorgen, dann gewiß nicht aus neu entdeckter Freundschaft. Sie treibt die Sorge um die »Stabilität der Volkswirtschaft« und um die Funktionstüchtigkeit des politisch-sozialen Regulierungssystems von Gesellschaft und Wirtschaft. Das ist heute nicht anders als vor ca. 130 Jahren, als - unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Umbruchs, der großindustrielle Produktionsstrukturen und ein Proletariat hervorbrachte, das den Konkurrenzverhältnissen des kapitalistischen Marktes weitgehend schutzlos ausgesetzt war - die einsetzenden Diskussionen um die Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse (im Kampf um den Normalarbeitstag und um das notwendige Minimuman sozialer Sicherung) mit Betrachtungen zur ökonomischen und politischen Stabilitätder Gesellschaft verknüpft wurden. Der liberale Diskussionszusammenhang hat sich seither wenig geändert: Um der Modernisierung der Volkswirtschaften willen wird heute nach neuen Elementen und Formen politisch-sozialer Regulierung verlangt; im zeitgenössischen Klartext heißt das zunächst einmal »Flexibilisierung« der Arbeitskraft und der Arbeitsverhältnisse - ohne daß damit zugleich die Grundpfeiler und Akteure gesellschaftlicher Regulierung in Frage gestellt würden. Denn »nur starke Gewerkschaften ... sind Garanten für stabile Volkswirtschaften« (E. Martens, in: Die Zeit v. 2. Mai 1986). Dabei gilt - soviel ist klar die liberale Sorge weniger der Gegenmacht als dem Ordnungsfaktor.

Published: 1986-09-01