Aktueller Call

Call for Papers PROKLA 212 (Heft 3, September 2023): Ostdeutschland

Frist für Exposés: 20. Februar 2023

Schwerpunktredaktion: Susann Bischof, Sarah Hinz, Alexander Maschke und Mariana Schütt.

Ostdeutschland gilt immer wieder als »Problemzone« (Steffen Mau), die eine Vielzahl von Fragen aufwirft. In den letzten Jahren drehten sich mediale Berichte dabei vor allem um die Themen Rechtspopulismus und den Rückhalt der AfD, Demokratieverdruss, Russlandfreundlichkeit oder Impfskepsis. Es fehlt aktuell nicht an Aufmerksamkeit für Ostdeutschland, was sich auch in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Auseinander­setzungen insbesondere zu den politischen Verwerfungen zeigt. Allerdings besteht bei der Analyse des Phänomens »Ostdeutschland« die Gefahr, eine geringe demokratische Beteiligung und die geringe Strahlkraft liberaler Orientierungsangebote zu verabsolutieren, anstatt dass die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Kämpfe untersucht werden, die sich darin artikulieren. In der PROKLA 212 wollen wir daher die Betrachtung der Gesellschaft Ostdeutschlands auf das polit-ökonomische Fundament fokussieren. Damit soll einerseits die verstreute Forschung zu diesem Thema gebündelt und ein Beitrag zu ihrer Selbstverständigung geleistet werden. Andererseits sollen die Analysen eine praktische Handreichung für diejenigen sein, die in die sozialen Kämpfe Ostdeutschlands involviert sind.

Das Heft geht dabei von zwei Problemstellungen aus. Erstens ist ein Blick auf die Entwicklung der industriellen Beziehungen und der gewerkschaftlichen Kämpfe zu richten. Dabei ist an die Entwicklung von Betriebsstrukturen – auch des Einzelhandels- und Dienstleistungsbereichs – ebenso zu denken wie an eine Auseinandersetzung mit den Potenzialen und paradoxen Effekten (Michael Behr), die mit dem akuten Fachkräftemangel einhergehen. Auch die gewerkschaftlichen Kämpfe mit ihrer dreißigjährigen Geschichte seit den letzten großen Streiks gegen die Deindustrialisierung über die Niederlage beim Kampf um die 35-Stunde-Woche der IG Metall in Ostdeutschland bis hin zu gegenwärtigen Arbeitskämpfen wie beispielsweise in Riesa sollen nicht vergessen werden. Sie alle eint das Bestreben, hinsichtlich der Regulation der industriellen Beziehungen zu den alten Bundesländern aufzuschließen und damit gegen die Strategie westdeutscher Konzerne zu opponieren, sich im Osten Standorte mit niedrigeren Lohnkosten zu schaffen. Dabei wird den Lohnabhängigen in Ostdeutschland attestiert, mit dem Selbstverständnis als »Arbeitsspartaner« (Michael Behr) gebrochen zu haben. Vielmehr zeige sich mit den sich verändernden demografischen und ökonomischen Bedingungen zugunsten der Lohnabhängigen ein neues Arbeitsbewusstsein, die eigenen Arbeitsbedingungen neu zu verhandeln. Daher stellt sich die Frage, welche Bedeutung Lohnabhängigen und ihren Interessenvertretungen als zivilgesellschaftlichen Akteur*innen heute in Ostdeutschland zukommt. Zu prüfen wäre, ob tatsächlich eine neue Arbeiter*innenbewegung in Ostdeutschland existiert, oder ob dieser Befund vielmehr darauf fußt, dass starke Gewerkschaftsstrukturen und engagierte Ehrenamtliche zugänglicher für sozialwissenschaftliche Forschung sind.

Zweitens soll das Heft eine Analyse gesellschaftspolitischer Verhältnisse in Ostdeutschland ermöglichen. Dabei wäre zu klären, welche Protestkulturen, Kämpfe oder politischen Verwerfungen auch jenseits eingangs geschilderter thematischer Verengungen bestehen. Denkbar sind hier beispielsweise Analysen, die auf die Leipziger Autoritarismus-Studien aufbauen oder Proteste historisch einordnen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Bedeutung von »Montagsdemonstrationen« zu problematisieren, wenn in ihnen eine mythische Verbindung von der demokratischen Opposition in der DDR über die Massenproteste gegen die Hartz-Reformen bis zu den jüngsten regressiven Protesten hergestellt wird. Entlang dieser vermeintlichen Traditionslinie stellt sich zudem die Frage nach einer spezifischen ostdeutschen Erfahrung politischer Partizipation, die ihre Legitimation auch aus dem Widerstand gegen die von der SED geführten Diktatur zu ziehen scheint. Außerdem sollen auch verdeckte Konflikte in den Fokus gerückt werden – etwa um Besitzverhältnisse des landwirtschaftlichen Bodeneigentums. Daneben gibt es Leerstellen in Bezug auf Analysen zu feministischen Bewegungen in den ostdeutschen Bundesländern sowie insgesamt zum Bereich der Regulation von Geschlechterverhältnissen.

Der geplante Schwerpunkt soll darüber hinaus Transitions- und Transformations­geschichten mittels ethnographischer Beiträge zu den Lebensverhältnissen der Menschen in Ostdeutschland veranschaulichen. Dabei geht es um gesellschaftliche Brüche in all ihrer Komplexität ebenso wie um Versuche, die bestehenden Verhältnisse anzueignen und/oder zu transformieren. Denkbar wären beispielsweise Beiträge zu den Auswirkungen von Austeritätspolitiken auf die (politische) Strukturierung des Ostens oder zu sozialökologischen Transformationskonflikten vor dem Hintergrund multipler Krisenerfahrungen. Auch qualitative Studien sollten in die sozio-ökonomische Entwicklung Ostdeutschlands eingeordnet werden und dabei demografische und sozialgeografische Besonderheiten berücksichtigen.

Schließlich ist zu fragen, inwiefern es Analogien zu den Entwicklungen der übrigen ehemaligen RGW-Staaten gibt, und ob Kategorien und Konzepte, die theorie­geschichtlich für die Bundesrepublik und Westeuropa entwickelt worden sind, auch hier tragfähig sind oder aber den Erfordernissen einer Untersuchung Ostdeutschlands möglicherweise nicht gerecht werden.

Insbesondere wünschen wir uns Beiträge zu folgenden Problemstellungen:

  • Inwieweit unterscheidet sich die Zivilgesellschaft Ostdeutschlands von derjenigen in den alten Bundesländern?
  • Welche Auseinandersetzungen und Kämpfe markieren entscheidende Zäsuren für die industriellen Beziehungen in Ostdeutschland und was bedeutet das für die Zukunft der Gewerkschaften? Worin liegen die Besonderheiten der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland?
  • Welche Charakteristiken weisen die Protestformen in Ostdeutschland auf?
  • Welche Motivationen liegen den Protestkulturen in Ostdeutschland zugrunde und unter welchen Bedingungen haben sich diese entwickelt?
  • Welche Herausforderungen bestehen in Ostdeutschland für feministische und antirassistische Bewegungen?
  • Inwieweit eignen sich Klassenanalysen der gesamten Bundesrepublik oder für osteuropäische Regionen für eine Untersuchung der Klassenlagen und Kräfteverhältnisse in Ostdeutschland?
  • Welche Bedeutung haben der Wandel der Eigentumsverhältnisse und die spezifischen Eigentumsstrukturen für die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland?

Die Redaktion lädt zur Einsendung von Exposés von 1-2 Seiten bis zum 20. Februar 2023 ein. Die fertigen Artikel sollen bis zum 22. Mai 2023 vorliegen und einen Umfang von 45.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen, Fußnoten und Literaturverzeichnis) nicht überschreiten. Zusendung bitte an: redaktion [at] prokla.de.