Bd. 40 Nr. 158 (2010): Postkoloniale Studien als kritische Sozialwissenschaft

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Ein Schwerpunktheft zu postkolonialen Studien wird vielleicht die Frage provozieren, ob man sich wirklich mit diesem Thema beschäftigen muss. Wird der Gegenstandsbereich der ehemals kolonisierten Gesellschaften nicht schon von dependenztheoretischen Ansätzen, der Weltsystemtheorie oder anderen Ansätzen der kritischen Sozialwissenschaft hinreichend erfasst? Sind die postkolonialen Studien nicht einfach nur ein neuer akademischer Trend? Die dieser PROKLAAusgabe zugrunde liegende Arbeitsthese lautet, einfach gesagt, dass dem nicht so ist. Demnach liegt die kritische Intervention postkolonialer Studien in einem – in der Form etwas angestaubten, inhaltlich aber nach wie vor hochaktuellen – Postulat der Ideologiekritik und Wissenssoziologie begründet: dass der gesellschaftliche Ort der Wissensproduktion den Inhalt beeinflusst. Ein zentraler Ausgangspunkt der postkolonialen Studien liegt mithin darin, dass die Sicht des – geografisch grob vereinfacht gesprochen – globalen Nordens auf den globalen Süden, und damit auch die Sicht der sozialwissenschaftlichen Disziplinen in ihren hegemonialen, aber auch vielen kritischen Prägungen von kolonialen Mustern gekennzeichnet ist. Es sind Muster, die „uns“ als vernünftig, zivilisiert und demokratisch konstruieren, und „die Anderen“ als, unzivilisiert(wobei man das heute nicht mehr so sagt), aber jedenfalls als weniger weit fortgeschritten und eben einfach als „anders“ erscheinen lässt. Diese Muster sind auch lange nach dem Ende formaler Kolonialherrschaft wirksam, und sie sind vielgestaltig: wir begegnen ihnen im Reisebüro, wo mit exotischen Schönheiten und wilden Stammeskriegern geworben wird, ebenso wie in Talkshow-Debatten um Kopftücher, Minarette und „den Islam“ und in sozialphilosophischen Abhandlungen, die sich eine gute Weltgesellschaft nur durch Verallgemeinerung des westlichen Gesellschaftsmodells vorstellen können, oder in politikwissenschaftlichen Analysen, die die geregelten und zivilisierten Staatenkriege Europas den durch Plünderung und brutale Gewalt an der Zivilbevölkerung geprägten „Neuen Kriegen“ der Peripherie gegenüberstellen – und dabei stillschweigend nicht nur die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, sondern auch die Massaker des Kolonialismus unter den Tisch fallen lassen. Die kritische Sozialwissenschaft ist ebenfalls nicht ganz frei von solchen Mustern...

Veröffentlicht: 2010-03-01