Vol. 30 No. 121 (2000): Soziale Gerechtigkeit

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Zum Wahlsieg von Rot-Grün hatte 1998 nicht zuletzt die Wahrnehmung einer zunehmenden „sozialen Schieflage“ beigetragen, für welche die konservativ-liberale Regierung mitverantwortlich gemacht wurde. Nicht nur waren die Unternehmensgewinne und erst recht die Aktienkurse weit stärker gestiegen als die Einkommen der lohnabhängigen Bevölkerung, zusätzlich wurden gerade die hohen Einkommen durch Steuerreformen und neu geschaffene Abschreibungsmöglichkeiten überproportional entlastet. Die wachsende materielle Ungleichheit wurde nicht als unabänderliche Begleiterscheinung des Kapitalismus hingenommen, sie wurde vielmehr als „Gerechtigkeitslücke“ aufgefaßt, die dringend einer staatlichen Korrektur b edürfte. W ie d ie B undestagswahl von 1998 zeigte, führte die offensichtliche Zunahme an materieller Ungleichheit auch in der individualisierten „Erlebnisgesellschaft“ noch zu erheblicher (wahl)politischer Mobilisierung. „Soziale Gerechtigkeit“ – wie diffus auch immer verstanden – hatte sich als Grundwert erwiesen, der nicht derart offensichtlich und auf Dauer verletzt werden konnte, wie dies von der Regierung Kohl vorexerziert wurde. Nach wie vor spielte in der politischen Kultur der Bundesrepublik der Anspruch, der Staat möge für einen gewissen sozialen Ausgleich sorgen, statt die materiellen Ungleichheiten noch weiter zu verschärfen, eine entscheidende Rolle (vgl. dazu den Beitrag von Peter Lohauß). Entgegen den in sie gesetzten Erwartungen knüpfte die rot-grüne Wirtschaftsund Finanzpolitik spätestens nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines dann aber fast nahtlos an die neoliberalen Konzepte ihrer konservativen Vorgänger an (vgl. dazu die Beiträge in PROKLA 116, September 1999). Nun sind die geübten WahlbürgerInnen zwar längst daran gewöhnt, dass die Parteien nicht halten, was sie im Wahlkampf versprochen haben. Und es ist auch nichts Neues, dass gerade ehemalige Oppositionsparteien, sobald sie an die Regierung gekommen sind, ganz schnell von anscheinend unerbittlichen „Sachzwängen“ eingeholt werden – sprich den Interessen derjenigen Gruppen, deren Machtpositionen eben nicht zur Wahl stehen.

Published: 2000-12-01