Call for Papers PROKLA 206
Corona und die Folgen: Gewinner, Verlierer und Chancen für eine neue Gesellschaftspolitik (Heft 1, März 2022)
Der Beginn der COVID-19-Pandemie liegt inzwischen eineinhalb Jahre zurück. In der politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte wurde oft betont, die Pandemie wirke wie ein Brennglas und zeige, wo gesellschaftliche Prioritäten liegen, entlang welcher Linien Ungleichheiten die Gesellschaft strukturieren, was gut, und was nicht so gut funktioniert. Besonders deutlich wurde dies in den Gesundheitssystemen: In Anbetracht von knappen medizinischen Behandlungs- und Bettenkapazitäten sowie Liefer- und Produktionsengpässen diverser Art ist die Notwendigkeit einer funktionierenden Notfall-, Gesundheits- und Arzneiversorgung schlagartig in den Fokus von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit gerückt.
Aber die Auswirkungen der Pandemie beschränken sich nicht auf das Gesundheitswesen. Die spezifische Kombination von Einbrüchen auf der Angebots- und der Nachfrageseite der Wirtschaft haben im globalen Maßstab zu Rückgängen geführt, die die Effekte früherer Krisen wie etwa der Finanzkrise 2008/2009 übersteigen. Eine Besonderheit war diesmal, dass das staatliche Handeln nicht einfach darauf zielen konnte, mit einschlägigen Maßnahmen die Wirtschaftsbelebung anzukurbeln. Im Gegenteil mussten zur Pandemiebekämpfung Beschränkungen in Form von Lockdowns aufgelegt werden, die insbesondere in den konsumorientierten Dienstleistungsbereichen die Wirtschaft fast zum Erliegen brachten. Zur Kompensation wurden in unterschiedlichem Umfang konjunktur- und sozialpolitische Maßnahmen ergriffen. In Deutschland etwa wurde der Zugang zum Kurzarbeitergeld erleichtert und ein Corona-Konjunkturprogramm aufgelegt. Mehr als 130 Milliarden Euro wurden eingesetzt, um die Folgen der Corona-Pandemie und der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit zu bewältigen. Die EU beschloss einen 750 Mrd. Euro umfassenden Wiederaufbaufonds. Und in den USA legte die Biden-Regierung ein 1,9 Billionen US-Dollar schweres Konjunkturprogramm vor.
Die Pandemie führte nicht nur zu einer Wirtschaftskrise und zu umfassenden staatlichen Interventionen, die gänzlich undenkbar schienen, solange das fiskalpolitische Dogma der »schwarzen Null« hochgehalten wurde. Sie hat auch in aller Deutlichkeit soziale Ungleichheiten offengelegt, die innerhalb der Nationalstaaten und im globalen Maßstab sowohl den Zugang zur Gesundheitsversorgung wie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse betreffen. Die Gefahr, an Corona zu erkranken und möglicherweise schwere Krankheitsverläufe zu erleiden, ist extrem ungleich verteilt und betrifft allerorten Menschen mit geringeren Einkommen sehr viel stärker als die besser Situierten. Entscheidende Faktoren sind hier Wohn- ebenso wie Arbeitsverhältnisse. Während viele, die von vornherein einen besseren Gesundheitsstatus hatten, sich ins Homeoffice in großen Wohnungen zurückziehen konnten, mussten andere in Versandlägern, Krankenhäusern, Schlachtbetrieben etc. weiter im direkten Kontakt arbeiten und waren Corona-Ausbrüchen ausgeliefert. Die krassen Ungleichheiten setzten sich beim Zugang zu Impfungen fort. In den USA etwa mussten sich Schwarze, Latinos und Latinas oder andere Arme angesichts des gängigen Systems der Priorisierungen bei den Impfungen weit hinten anstellen. Ähnlich sieht es auf der internationalen Ebene aus. Bis Mitte Mai 2021 hatten weltweit 820 Millionen Menschen zumindest eine Erstimpfung erhalten, doch davon leben 88 Prozent in den reichen Staaten des Nordens und nur 0,2 Prozent in den 50 nach UN-Kriterien am wenigsten entwickelten Staaten.
Neben den gravierenden Ungleichheiten der Gesundheitsversorgung ist auch bei Einkommen und Vermögen nach Gewinnern und Verlierern zu fragen. Die Unterstützungsprogramme haben in vielen Ländern zumindest vorübergehend krasse Formen der Not bei denen verhindert, die ihre Arbeit verloren oder sonst wie erhebliche Einkommensverluste erlitten. Auch Selbständige und Unternehmen wurden massiv unterstützt, wenngleich die Kriterien, nach denen erhebliche Summen ausgeschüttet wurde, häufig im Dunkeln blieben. Dennoch zeigen erste Befunde, dass jene, die besonders große Vermögen besitzen, hierbei besonders profitiert haben. Gerade die Allerreichsten – Milliardäre und Milliardärinnen – sind eindeutige Gewinner der Umverteilung, die im Zug der Pandemie und der damit verbundenen Maßnahmen stattgefunden hat. Die weltweit 2.700 Milliardäre und Milliardärinnen haben ihr Vermögen im Jahr 2020 um sechs Prozent steigern können.
Das Heft will zum einen Bilanz ziehen, zum anderen sollen mögliche Perspektiven diskutiert werden. Wie wird es nach der Pandemie weitergehen? Fragen, die uns dabei interessieren und zu denen Beiträge erwünscht sind, umfassen unter anderem folgende Aspekte:
- Ist von einer dauerhaften »Rückkehr des Staates« auszugehen? Wenn ja, was bedeutet das konkret? Besteht tatsächlich eine Chance, das Gesundheitswesen zu stärken und dabei Markt- und Profitlogiken zurückzudrängen? Kann Covid-19 ein »Weckruf für eine neue Politik öffentlicher Güter« (Berthold Vogel) sein?
- Haben sich in der Pandemie neue Formen der Solidarität zwischen den Beschäftigten entwickelt, die Potenziale für eine neue Politik der Arbeit und ihrer Demokratisierung enthalten?
- Während in der Finanzkrise 2007/2008 das Finanzsystem als systemrelevant galt, sind es in der Coronakrise Berufe und Tätigkeiten im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen. Diese sind häufig schlechter entlohnt und weniger anerkannt als andere Berufe. Wie sind die Chancen, hier eine echte Aufwertung zu erreichen und welche Maßnahmen werden dafür benötigt?
- Die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist in den letzten Jahrzehnten immer ungleicher geworden und nähert sich Thomas Piketty zufolge Verhältnissen, wie sie in vielen Ländern vor dem Ersten Weltkrieg vorherrschten. Inwiefern hat die Pandemie diese Tendenzen bei Unternehmen wie bei Haushalten verstärkt?
- In der Krise hat der Diskurs um »organisationale Resilienz« Aufmerksamkeit erfahren. Bietet dieser Anknüpfungspunkte aus einer politisch progressiven und kritisch sozialwissenschaftlichen Perspektive oder verstellt er eher den Blick auf radikale gesellschaftspolitische Lösungen?
- Inwiefern haben sich auf der internationalen Ebene die Gegensätze zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden durch den unterschiedlichen Zugang zu Impfstoff weiter verschärft?
Die Redaktion lädt zur Einsendung von Exposés von 1-2 Seiten bis zum 6. September 2021 ein. Die fertigen Artikel sollen bis zum 12. Dezember 2021 vorliegen und einen Umfang von 45.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen, Fußnoten und Literaturverzeichnis) nicht überschreiten. Zusendung bitte an: redaktion@prokla.de, martin.beckmann@verdi.de und dorothea.schmidt@hwr-berlin.de