Bd. 28 Nr. 112 (1998): Europa I: Osteuropa und der Westen

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Viele, vor allem westliche Einschätzungen der osteuropäischen Reformpolitik waren noch bis vor kurzem von der selbstgewissen Ansicht geprägt, daß die postkommunistische Transformation in den fortgeschritteneren Reformstaaten im wesentlichen abgeschlossen sei. Die entscheidende Aufgabe der Politik wurde im Bruch mit den zentralen Institutionen des Sozialismus gesehen – und die Kommunistischen Parteien und die Planbürokratien waren auch innerhalb kürzester Zeit von der Bildfläche verschwunden. Die konstruktiven Leistungen des Staats sollten sich im Großen und Ganzen darauf beschränken, die Basisinstitutionen eines »demokratischen Kapitalismus« zu etablieren. Die Fortschritte einzelner Länder wurden an einem Entwicklungspfad mit klar festgelegten Wegmarken gemessen, dessen Richtung alternativlos vorgezeichnet war. Nahezu alle osteuropäischen Regierungen haben sich in den Jahren nach 1989 auf einen Liberalisierungskurs verpflichtet – sei es aus eigener Überzeugung, sei es unter dem Druck der westlichen Gläubiger. Die neoliberalen Reformprogramme gewannen ihre Überzeugungskraft angesichts der desaströsen Auswirkungen blockierter Reformen in der Ukraine und Weißrußland und nicht zuletzt durch die Hoffnung, bei konsequenten Reformen an den westeuropäischen Wohlstand anschließen zu können. Das in den Ländern der Dritten Welt angewandte Konzept der »strukturellen Anpassung« wurde zur vorherrschenden Transformationstheorie, in der freilich entgegen dem akademischen Ritus kaum zwischen positiver Analyse und normativen Politikempfehlungen unterschieden wurde. Aus der Sicht dieses Konzepts war der Niedergang der sozialistischen Länder nur das augenfälligste Beispiel für das notwendige Scheitern staatszentrierter, von Weltmarkteinflüssen abgeschirmter Entwicklungstrategien, die zuvor bereits in Südeuropa und Lateinamerika verabschiedet worden waren.

Veröffentlicht: 1998-09-01