Bd. 24 Nr. 96 (1994): Fundamentalismus und neue Religiosität

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Der Fundamentalismus und die in aller Welt neuerwachenden religiösen Bewegungen werden im allgemeinen als Widerstand gegen die Zumutungen einer von Europa ausgehenden Zivilisation, die Traditionen und Glaubenssysteme zersetzt, verstanden. Man verwendet den Begriff »Fundamentalismus« in der Regel als globale Bezeichnung für außereuropäische, insbesondere in islamischen Ländern auftretende, defensive Protestbewegungen, die mit religösem Fanatismus an der Konservierung patriarchaler Hierarchien und Familienstrukturen arbeiten. Die Ziele dieser Bewegungen richten sich nicht nur ideell gegen die Werte westlicher Aufklärung, sondern sind auch mit demokratischen Formen von Politik, mit religiöser Toleranz und subjektiver Freiheit unvereinbar: Die globalen Prozesse der Differenzierung von Religion und Recht, Politik und Wirtschaft, der Auflösung traditionaler Vergemeinschaftungen und der Entwicklung einer autonomen Individualität können nur mit despotischer Gewalt und Staatsterror zurückgedreht werden. Diese Interpretation des Fundamentalismus kann sich auf eine lange Tradition berufen, in der die Ausbreitung des industriellen Kapitalismus und der westlichen Kultur als Geschichte des Fortschritts und der Enttraditionalisierung gefeiert und jeder Widerstand als hinterwäldlerische Regression eingestuftwurde. 

Veröffentlicht: 1994-09-01