Bd. 20 Nr. 79 (1990): Macht des Wissens

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Zwischen der berühmten rationalistischen Formel Descartes' »Cogito ergo sum« und dem weniger berühmten, dafür aber praktisch um so wichtigeren und seinerzeit nicht wenig bejubelten Hohnspruch des Ralph Waldo Emerson » Viel Wissen bereitet Kopfweh « liegen zwei Jahrhunderte und verschiedene Welten. Angesichts der Nachtmare, die uns die rationalistische Vernunft beschert, mit der sich die moderne Zivilisation - dem Imperativ Francis Bacons gehorchend- der Natur bemächtigt hat, fordert Günther Anders Descartes noch einmal fast zwei Jahrhunderte später auf, sein »Haupt zu verhüllen«, wenn »Selbst-sein« nur noch im Zurückbleiben - hinter dem Fortschritt des Wissens, der Naturbeherrschung nämlich - möglich ist. Identität in und durch rationalistische Naturbeherrschung, oder Selbst-sein in Selbstbescheidung? Oder vielleicht beides. Das Land, in dem Emersons Wort breite Zustimmung finden konnte, ist auch heute nicht um Antworten auf die Frage verlegen: Man weiß, wie Raketen zum Mars geschickt werden können und deshalb tut man es. Doch man geht des Sonntags auch in die Kirche und schwört auf den lieben Gott im Himmel. Man weiß um die Giftstoffe, die einem Menschen »auf humane Weise« ein Ende bereiten, und deshalb nutzt man die Gaskammer. Man weiß um die ökologischen Folgen der automobilen Gesellschaft, um die Folgen des Eintrags von Kohlenstoffen in die Erdatmosphäre. Doch man sorgt sich um die japanische Autokonkurrenz und ist stolz darauf, ganze Städte inklusive Motels und drive-in fast-food stations zu »no-smoking areas« deklariert zu haben. Nichtraucher ertragen den blauen Smogdunst über den Städten besser. Wissen und Wissenschaft lösen also allenfalls einzelne, rationalistisch isolierte Probleme. Es sind Problemchen angesichts der wissenschaftlich vorbereiteten technischen Reichweite menschlichen Handelns und der dadurch produzierten Gefährdungslagen der menschlichen Existenz; das Wissen darum bereitet Kopfweh. Nicht-Wissen kann entlastend sein.

Veröffentlicht: 1990-06-01