Bd. 29 Nr. 115 (1999): Totalitarismus und Liberalismus

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Der Rückblick auf das ablaufende Jahrhundert fordert zu übergreifenden Deutungen und globalen Begriffen heraus, die seine großen Konfliktformationen, seine katastrophischen Brüche und überraschenden Wendepunkte verständlich machen. Die vorherrschenden Interpretationslinien ranken sich um das Jahr 1989, in dem das Licht der liberalen Demokratie den Sieg über das totalitäre Reich des Bösen davongetragen zu haben schien. Die universelle Durchsetzung von politischer Freiheit auf der einen, marktwirtschaftlicher Rationalität auf der anderen Seite scheinen das Tor zu einer neuen Welt aufgestoßen zu haben, welche die religiösen, nationalistischen und ideologischen Konflikte hinter sich läßt und allenfalls noch einige Nachhutgefechte mit den letzten Vertretern einer untergehenden Epoche austrägt. Selbst die einzig noch herrschende kommunistische Partei von Bedeutung sah sich veranlaßt, das Privateigentum in der chinesischen Verfassung zu verankern. Insofern trifft es zu, daß die »Revolutionen von 1989« nichts Neues hervorgebracht, sondern in ungeahnter Weise die Gesellschaftsform affirmiert hat, welche der Sozialismus überwinden wollte. Die großen Veränderungen des letzten Jahrzehnts haben zu einem gewissen Sprachverlust der Linken geführt. Die Auflösung des osteuropäischen »Realsozialismus « hat den Abschied von einem Vokabular beschleunigt, das politische Konstellationen in den Begriffen der Klassentheorie zu bestimmen und gesellschaftliche Veränderungen nach ihrem Fortschrittscharakter beurteilte. Vielen gilt »Sozialismus« nicht mehr als ein historisches Projekt, sondern bestenfalls als defensives Reformprogramm zur Zivilisierung einer entgrenzten Ökonomie und zur Versicherung gegen Marktrisiken.

Veröffentlicht: 1999-06-01