Bd. 43 Nr. 173 (2013): Familie und Staat

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„Wer sich in Familie begibt, kommt darin um“ – diese bittere Diagnose des Wiener Schriftstellers Heimito von Doderer, der seit den 1950er Jahren mit Romanen wie Die Strudlhofstiege oder Die Dämonen bekannt wurde, hätte die Mehrzahl seiner bürgerlichen Leser/innen wohl kaum geteilt, galt doch nicht nur ihnen, sondern sämtlichen gesellschaftlichen Schichten die Familie als einzig erstrebenswerte Lebensform. Zwar warfen auch andere Schriftsteller wie Arthur Schnitzler oder Thomas Mann einen Blick in die seelischen Abgründe, die sich in Familien auftun konnten, und schilderten beredt die möglichen psychischen Beschädigungen, die vor allem Frauen und Kinder, aber keineswegs nur sie, trafen. Auch Sozialwissenschaftler wie Max Horkheimer oder Erich Fromm stellten bereits 1936 in den Studien über Autorität und Familie kritische Überlegungen zur Entstehung autoritärer Persönlichkeiten an. Die patriarchale Kleinfamilie, in der sämtliche Mitglieder in ihrer Abhängigkeit von dem männlichen Ernährer standen, wurde als eine der tieferen Ursachen dafür gesehen, dass Kinder heranwuchsen, die unselbständig blieben, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt waren und sich bereitwillig unterordneten. Jahrzehnte später wurden diese Erkenntnisse in der Studentenbewegung wieder aufgenommen und ausgiebig in Hochschul-Seminaren diskutiert. Eine beherzte Minderheit versuchte auch umgehend, sie in die Tat umzusetzen. Indem Kommunen und Kinderläden gegründet wurden, sollten die bisherigen unterdrückenden Strukturen aufgehoben werden. In Kommunen wurden tendenziell alle Prinzipien der bürgerlichen Familie – privates Eigentum, sexuelle Monogamie, interne Hierarchie – auf den Kopf gestellt, was viele der damals Beteiligten im Rückblick inzwischen als recht zwiespältige, gelegentlich sogar traumatische Erfahrung erinnern. Dagegen haben die Experimente mit neuen Erziehungsvorstellungen in den Kinderläden, anfangs in der Öffentlichkeit ängstlich beäugt und unter den Verdacht des Zusammenbruchs aller Werte gestellt, längerfristig positive Auswirkungen auf die gängigen Konzepte von Kindergärten gehabt. Kinder sollten nun nicht mehr in erster Linie diszipliniert werden, zu festgesetzten Zeiten schlafen und alle die gleichen possierlichen Wichtelmännchen zusammen bauen, sondern ihre Kreativität entfalten, sich selbst und andere als selbständig erfahren und frei spielen, wobei traditionelle Reformkonzepte wie solche der Montessori-Kindergärten wieder zu neuem Ansehen kamen. 

Veröffentlicht: 2013-12-01