Bd. 35 Nr. 139 (2005): Globale Ungleichheiten

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Ein Gespenst ging um in Deutschland, das Gespenst des Kapitalismus. Es wechselte auf wundersame Weise seine Gestalt, trat einmal auf als Heuschreckenschwarm ausländischer, vorzugsweise amerikanischer Investoren, dann wieder als vernunft- und moralbegabtes Wesen, an dessen soziale Verantwortung man appellieren konnte. Die Kritik an diesem Gespenst sollte helfen, eine Wahl zu gewinnen, aber die Wahl ging verloren und nun kommt die nächste, große Wahl viel früher als geplant. Diejenigen, die dieses Gespenst gerufen haben, bemühen sich jetzt, es wieder einzufangen und die Flasche zuzustöpseln, der es entstieg. Wie in jedem Gespenst steckt allerdings auch in diesem ein harter, gesellschaftlicher Kern, der sich der Inszenierung widersetzt. Die Menschen sind klug genug zu wissen, dass der Kapitalismus nicht wie eine Heuschreckenplage vorüberzieht und dass diejenigen, die jetzt Alarm geschlagen haben, vorher nichts als Anpassung und Opfer von denen gefordert haben, denen der Wind der Globalisierung hierzulande am schärfsten ins Gesicht bläst. Sie kennen die Gefahren, die die zunehmende Abhängigkeit des eigenen Schicksals und dessen der Gesellschaft von Markt und Profit mit sich bringen, und lehnen zugleich die Inszenierung von Kapitalismuskritik zu Wahlkampfzwecken ab. Das zeigen alle Umfragen zu Münteferings Kampagne. Sie spüren die Realität einer langsam, aber stetig auseinanderdriftenden Gesellschaft, und selbst dann, wenn sie sich am besseren Ende wiederfinden, ist ihr Leben dabei, sich zu verändern, stressiger, unsicherer und voller widersprüchlicher Anforderungen zu werden. Das Gefühl von Ungerechtigkeit, von einer aus dem Ruder laufenden gesellschaftlichen Entwicklung macht sich breit, wenn der Vorsitzende der Deutschen Bank Rekordgewinne verkündet, und gleichzeitig erklärt, diese müssten durch den Abbau von 6000 Arbeitsplätzen noch weiter gesteigert w erden, so als wolle er den Marxschen Satz von der Maßlosigkeit kapitalistischer Verwertung, die keine innere Grenze kenne, auch noch dem letzten Zweifler einbläuen.

Veröffentlicht: 2005-06-01