Bd. 36 Nr. 144 (2006): Europa

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In seinem Buch Mirages and Miracles schreibt Alain Lipietz, dass das Entstehen einer kohärenten Regulation kapitalistischer Vergesellschaftung keinesfalls gegeben ist. Eine solche Regulation gleicht eher einem Zufallsfund, entstanden im Prozess gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Er fährt fort: „The history of capitalism is full of experiments, which led nowhere: aborted revolutions, abondoned prototypes and all sorts of monstrosities“ (Alain Lipietz: Mirages and Miracles. The Crisis in Global Fordism, London 1987, S. 15). Es gibt gute Gründe, darüber nachzudenken ob der europäische Integrationsprozess ein weiteres solches zum Scheitern tendierendes Experiment, eine weitere Monstrosität darstellt. Spätestens mit der Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrags durch die französischen und niederländischen WählerInnen ist deutlich geworden, dass die Europäische Union sich in einer tiefen Krise befindet. Nun sind Krisen in der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses zwar nichts Neues. Man denke etwa an die Politik des „leeren Stuhls“, mit der der französiche Präsident de Gaulle in den 1960er Jahren auf die drohende Vergemeinschaftung von Entscheidungsprozessen reagierte, oder an die langanhaltende Stagnation des Integrationsprozesses in den 1970er und frühen 1980er Jahren, bevor mit dem Binnenmarktprojekt nicht nur eine Welle der Europa-Euphorie ausgelöst, sondern zugleich der Grundstein für den gegenwärtigen neoliberal ausgerichteten Integrationspfad gelegt wurde. Wie der einleitende Artikel von Martin Beckmann, Frank Deppe und Matthis Heinrich deutlich macht, ist die gegenwärtige Krise jedoch tiefgreifender als die bisherigen. Die Autoren machen zwei Konfliktachsen aus, die sich seit einiger Zeit im europäischen Integrationsprozess überlagern, und in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Verfassung ihren Höhepunkt gefunden haben. Erstens handelt es sich um die Frage der Vermittlung europäisch-gemeinschaftlicher und nationalstaatlich-partikularer Interessen. Hinzu k ommt zweitens die Konfliktachse zwischen den politischen und ökonomischen Eliten als Trägern des Integrationsprozesses und weiten Bevölkerungsteilen in vielen Mitgliedstaaten, die der europäischen Integration zunehmend skeptisch gegenüber stehen.

Veröffentlicht: 2006-09-01